IBM, Microsoft, SAP und Google suchen fieberhaft nach Autisten. Bevorzugt sind solche Menschen, bei denen das Asperger Syndrom diagnostiziert wurde. Weil sich „diese Menschen“ gezielt für bestimmte Aufgaben in der IT-Programmierung einsetzen lassen. Ein Schweizer Unternehmer hat gleich eine Ausbildungs- und Vermittlungsstiftung installiert, in der 14 – 20jährige Männer auf den neuen Bedarf abgerichtet werden.
Die Leadership Coach und Fachfrau für Sozialkompetenzen ist auch an Bord – Rollenspielchen und Klischeeabgleich werden gut bezahlt. Wie kann etwa ein Mensch, dem allzu große Nähe zu anderen Menschen unangenehm ist, darauf trainiert werden, höflich zu bleiben, wenn seine Grenzen verletzt werden?
Dieses am 20. Juni über Deutschlandfunk ausgestrahlte Feature hat mich beim Zuhören bereits rasend gemacht. Nicht nur, dass Menschen in klinischen Störungskatalogen zusammenklassifiziert werden (Autismus ist im ICD-10 mit Schlüssel 84 definiert) – nein, die Betroffenen fügen sich notgedrungen auch in diese Raster und lassen sich für die Wirtschaft nutzbringend abrichten.
Die Bemerkung eines der interviewten SAP-Bewerber trifft es ganz gut
„Mein Defizit ist vielleicht, dass ich nicht merke dass ich ein Defizit habe“.
Ich frage mich, wie Spitzenführungskräfte trotz sinkender Betriebsergebnisse (darüber täuschen steigende Aktienkurse und Umsatzzahlen gerne hinweg), zunehmender Fluktuation und massiver Ausfälle auf Topebene noch immer an menschenverachtenden Effizienzmodellen festhalten können.
Das „Schmerzensgeld“ scheint hoch genug zu sein, um das Klischée des Erfolgsmenschen aufrecht zu erhalten. Zum Preis von Gesundheit, Familie und innerem Frieden.
Und das Leistungssystem, das nach Klischées Anwärter konditioniert und auswählt, reproduziert sich selbst: Nicht Führungspersönlichkeiten mit Substanz und Tiefe kommen zum Zuge, sondern gepanzerte Fahnenträger, die im eng definierten Rahmen einer Rollenbeschreibung immer wieder die gewünschten Ergebnisse aus dem Hut zaubern.
Wie lange noch ?
Zu welchem Preis für uns selbst und unsere Mitwelt ?
Was sind Klischées und warum wagen wir noch immer nicht, Subjektivität und Vielfalt wirklich zu vertrauen ?
Klischée ist ein anderes Wort für Schablone
Durch die Klassifikation von Menschen nach bestimmten, wenigen Eigenschaften, die sie scheinbar gemeinsam haben, entstehen Klischées:
Etwa, „der Mittelstand“ oder „gute Bürger“, die in jedem Fall dazu gehören, gebildet sind, aber doch nie nach ganz oben kommen werden.
Oder „Politiker“, die große Reden führen, manipulieren und doch keine eigene Macht haben.
Oder eben die neuerdings begehrten Autisten, die das ICD-10 als „Menschen mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung“ beschreibt „die einher geht mit Schwächen in sozialer Interaktion und stereotypen Verhaltensweisen. Daneben zeigen sie Stärken bei Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Intelligenz.“
Diese Klischées erlauben uns, unsere Wahrnehmung zu verkürzen und zu fixieren: Ein komplexer Sachverhalt (zB: Mensch) wird auf einen Strauß weniger Eigenschaften reduziert. Das führt schneller zu einem „gut“/“schlecht“-Ergebnis, gibt uns einen bewährten Re-Aktionskorridor und legitimiert unsere Entscheidung und unser Verhalten, sofern es sich um kollektive Klischées handelt.
Auf diese Weise reduzieren wir unsere Begegnungen und unser mitmenschliches Umfeld auf Schablonen und unseren Erfahrungsraum auf „gehört dazu“ oder „gehört nicht dazu“.
Was wäre, wenn wir diese Schablonen nicht hätten ?
Wir wären bei jeder Begegnung neu herausgefordert, unser Gegenüber zu erkunden, eine gemeinsame Interaktionsbasis zu finden und das Feld, das miteinander möglich ist, sich entwickeln zu lassen.
Als effiziente Menschen mit Zielen und Bedingungen können wir uns das aber nicht leisten.
Unsere Erfahrungen, unsere begrenzte Zeit, unsere Gewohnheiten und Ängste erlauben uns nicht, uns ständig und immer wieder neu auf offene Erfahrungsfelder einzulassen.
Nicht ?
Und so begegnen uns scheinbar immer wieder die gleichen „Typen“, machen wir immer wieder die gleichen Erfahrungen mit Menschen.
Nicht ?
Kollektive Klischées verhindern eine lebendige Gemeinschaft
Und, meine lieben „Normalen“: Auch „normal“ ist ein Klischee. Das Klischee nämlich, gut zu funktionieren, ohne größere Umstände instrumentalisierbar zu sein und mit den einfachen Reizmustern Besitz, Anerkennung und Macht steuerbar zu sein.
Autisten hingegen –ähnlich wie Indigos – bekommen in der Regel schon im Schulalter ihre „Diagnose“ und haben es fortan mit allerhand Erschwernissen im Gemeinschaftsleben zu tun. Nach der Definition des Bundesverbandes Autismus Deutschland sind Autisten Menschen, denen es schwer fällt, soziale und emotionale Signale richtig zu deuten und darauf zu reagieren.
Wie ist die „richtige“ Deutung sozialer und emotionaler Signale ?
Und wer beurteilt dies ?
Ob Indigos, Autisten oder Workaholics: Die Schubladen, die wir hier kreieren, sind menschenunwürdig und dienen ausschließlich dazu, uns konsumierbar zu machen. Ein Indigo bekommt Ritalin, ein Bipolarer Lithium, ein „Normaler“ ein paar Taler und soziale Abhängigkeiten. Ein Autist soll in der Kammer sitzen und IT-Codes entwickeln, ein Psychopath die Angestellten bei der Raison halten.
Wenn DAS die Menschen von morgen sind, dann ist es leicht, sie durch Maschinen zu ersetzen.
Ist es das, was Ihr Euch unter „Leben“ vorstellt ?
Ist es das, was Ihr zu zahlen bereit seid für ein bisschen „Sicherheit“ ?
Und, liebe Personalverantwortliche – in den Unternehmen und auch in externen Rollen: Seht Euch an, welche Arbeitswelten Ihr hiermit erschafft. Fühlt nach, wieviel Kraft es Euch kostet, diese Scheinwelt zu kontrollieren.
Von Mitarbeiterbindung bis Motivation: Spart die „richtige“ Schublade wirklich Kosten ?
Klischées machen uns sortierbar, zeigen uns die Grenzen und die Bedingungen, um dazuzugehören oder eben „draußen“ zu sein. Vor allem aber machen sie uns instrumentalisierbar – wie etwa für die kranken Köpfe an der Spitze der großen Unternehmen, die noch immer glauben, Wachstum und Machterhalt seien notwendige Bedingungen von Erfolg.
Dass Menschen und ihre Interessen nur bis zu einem begrenzten Grad instrumentalisier- und steuerbar sind, habe ich gut 15 Jahre lang mit meinem Ansatz „Wertebasiertes Management“ zu vermitteln gesucht.
In meiner Arbeit mit dem Wertebasierten Management konnte ich einige wenige Unternehmerinnen und Unternehmern und auch die eine oder andere Spitzenfürungskraft erreichen und bestärken. Aber mit der Konditionierungsindustrie ist diese Herangehensweise kaum vereinbar.
Mein Solgan – "Werte statt Ziele" – kam auch bei diversen Beratern an – der Inhalt war dann aber wohl doch zu weit von Klischées entfernt: Das Subjektiv, die Wertegemeinschaft, die offene Verhandelbarkeit von Interessen, ... wer will das verstehen, wenn er es eilig hat ?
So hat die Beratungsindustrie nun auch das Wertethema durch, ohne dass wir auch nur einen Deut mehr Mensch an der Spitze unserer (Groß-)Unternehmen und Institutionen sehen könnten. Mitarbeiter aller Couleur erfreuen sich nun hübscher Wertechartas, gleich neben den Missionen und Visionen der 90er Jahre. Sie können sie aufsagen, spielen das familiy-Spiel und gehen ihren stupiden Aufgaben nach bis… ja, bis die Rechnung eben nicht mehr aufgeht.
Die „Vice President und Chief Diversity & Inclusion Officer der glücklichen SAP-Familie, Anka Wittenberg, ruft nun den großen „Inklusions-Feldzug“ genau derer aus, die das Hochleistungs-Konditionierungs-System vorher als „gestört“ aussortiert hatte. Die Karrierefrau brüstet sich übrigens in Managermagazinen mit dem Spruch "Bei der Navy habe ich gelernt, ein Kriegsschiff zu steuern" – … Wer das Buch von Dave Eggerts: „The Cicle“ – gelesen hat oder einfach nur einem Unternehmen angehört, in dem „Motivation“, „Firmenkultur“ und Mitarbeiterbindung zu „Familien“, „Spirits“ und „Leistungsteams“ hinaufstilisiert wurden, möge bitte überprüfen:
Wo sind meine Freunde ? Wie fühlt sich meine Familie an ? Was würde ich heute mit dem Tag anfangen, wenn es „die Company“ nicht gäbe ?
Für Google, IBM, Apple et alteri schien die Rechnung lange aufzugehen: Hohe Gehälter, schillernde Vorstände und große Parolen haben wenigstens in Richtung Markt ihre Wirkung getan.
Weil es genug Menschen gibt, die Angst vor offenen Erfahrungsräumen und einem authentischen Eigenprofil haben. Es ist einfacher, sich selbst und andere einem bestimmten Klischées zuzuordnen. Es gibt Sicherheit.
Diese Rechnung mit der Mitarbeiter-Dressur wird so lange aufgehen, solange WIR diesen Klischées folgen: Solange wir nach Rastern suchen, die andere Menschen für uns berechenbarer machen, solange wir selbst - um dabei zu sein - Klamotten, Autos und Büros zulegen, die uns zwingen noch mehr Geld heranzuschaffen, solange Personalverantwortliche weiterhin über Umsatzzahlen gesteuert sind und nach (ersetzbaren) Fähigkeiten Ausschau halten, statt nach charakterlicher Substanz.
Nachdem bei Google wie bei Microsoft wie bei SAP also alle immer lächeln und „voll hinter der Firma stehen“ gab es dann 2010 doch lange Gesichter, als Hassos glückliche Familie erstmalig einen größeren Personalabbau vornahm.
Und auch die komfort-und freiheitsverwöhnten Google-Hasis sind nur solange „dabei“, solange sie das ABC tanzen. In den Reihen meiner Mandanten finden sich allerdings auch solche, die eigene Ideen hatten und von heute auf morgen aus der Familie flogen.
Ein Blick in die Geschäftsberichte – und bitte: nicht die Aktienkurse oder Umsätze, die beliebige hoch gedreht werden können – sondern das Betriebsergebnis aus gewöhnlicher Geschäftstätigkeit – zeigt, dass es eben NICHT funktioniert. Wenn da nicht bald mit einem Unternehmenskauf das Betriebsergebnis wieder auf Hochglanz gebracht wird, wird wohl auch SAP aus dem Klischée der eierlegenden Wollmilchsau fallen.
Wage Dich selbst
Dieses System würde nicht funktionieren, wenn wir es nicht erlauben und aufrechterhalten würden.
Was ich hier schreibe, gilt 1:1 auch für unseren Staat, für die EU, für unsere Weltgemeinschaft: Klischées sind die Scheuklappen, mit denen wir uns ein Urteil über andere bilden auf der Basis viel zu weniger Informationen.
Wer über 25 ist sollte wissen, dass es nichts gibt, das sicher wäre. Dass jeder Schritt ein neues Feld eröffnen kann, dass jede Begegnung große Lernmöglichkeiten birgt. Wenn wir es wagen, die Klischées, hinter denen wir uns versteckt haben, abzustreifen, und stattdessen mit unserer eigenen Unberechenbarkeit, Wandelbarkeit , unseren Schwankungen, Entwicklungen und temporären Standpunkten in die Welt gehen, dann – nein: es wird nicht das Chaos über uns hereinbrechen und auch werden Funktionen, an die wir uns gewöhnt haben nicht plötzlich sämtlich verwaisen.
Es wird vielleicht etwas langsamer zugehen in der Welt.
Es wird vielleicht ein bisschen weniger Wirbel und Tamtam um Größe und Erfolg geben.
Stattdessen aber stabilere Verbindungen zwischen den Menschen, Raum für nachhaltige Kreativität (die auch Produktivität beinhaltet), bessere, weil beherzte Arbeitsergebnisse und unkontrollierbare aber hoch effektive Lösungsprozesse.
Ja, das ist, was geschieht – jenseits der Klischéemauern übrigens bereits in vollem Gange – und es ist gut. Denn es atmet. Es ist eigen. Und unberechenbar.
Zitat vom Hirnforscher Gerald Hüther
"Eigentlich ist jedes Kind hoch begabt. Bis es sich nach all der Dressur irgendwann nicht mehr trat. Es sind eigentlich nur die, die nochmals zum Unterricht müssten, die glauben, dass die eine Begabung wertvoller sei als die andere."